Wir alle sind nur Wasser in unterschiedlichen Gefäßen – Thomas Hüper-Maus
„Macht doch mal etwas Platz, ihr müsst euch hier nicht so breit machen!“
„Moment einmal, wir waren schließlich zuerst hier. Wer jetzt dazu kommt, muss halt sehen, wo er bleibt. Woher kommt ihr überhaupt? Ihr seid doch gar nicht von hier!“
„Unsere Heimat ist Samoa, das ist eine Inselwelt, die liegt in der Südsee. Eigentlich ist es dort paradiesisch schön, aber seit es immer wärmer wird, drohen wir dort abzusaufen. Daher kam es uns nicht ungelegen, hier nach Deutschland gebracht zu werden. Hier soll man sicher und gut leben können, so berichteten es deutsche Touristen, die wir auf unseren Inseln als Gäste willkommen hießen.“
„Ja, das ist richtig, hier lebt es sich sehr komfortabel und sicher. Allerdings gilt das in erster Linie, für uns Deutsche. Deshalb müssen wir schon darauf achten, wer hier alles so ins Land kommt.“
„Ich hoffe nicht, dass wir Türken damit gemeint sind. Schließlich leisten wir hier seit Jahrzehnten unseren Beitrag, damit es in Deutschland Land und Leuten gut geht. Wir gehören inzwischen doch genauso hierher, wir ihr!“
„Genau so ist es!“, schallt es von weiter hinten, wo sich die Portugiesen, Spanier und Italiener versammelt hatten. „Ohne uns wäre es hier alles viel trostloser. Haben wir doch eine große kulturelle Vielfalt und ein neues Lebensgefühl in dieses knorrige Land gebracht!“
„Ja mei, isch scho Recht, aber was wollns die ganzen Afrikaner hier bei uns? Die solln lieber Dahoam bleiben, von woas herkimme san“, warfen einige Bayern ein.
„Genau, die gehören hier einfach nicht hin“, stimmten ein paar Sachsen ihnen zu.
„Aber wo sollen sie denn hin, wenn das Leben dort, wo sie herkommen, so schwierig wird?“, warf eine Frau aus dem Hunsrück ein. „Habt ihr vergessen, dass viele unserer Vorfahren vor zweihundert Jahren auch das Land Richtung Amerika verlassen mussten, weil damals die Zeiten so schlecht waren!“
„Das ist korrekt“, ergänzte ein Herr aus der Pfalz. „In Amerika fragt heute niemand mehr, aus welchem Winkel der Welt seine Vorfahren einst gekommen sind“.
„Und nach dem Krieg haben wir viel mehr Flüchtlinge aus dem Osten aufgenommen als heute ins Land kommen! Und dass, obwohl es uns nach dem großen Krieg selbst so viel schlechter ging als heute!“, warf eine Gruppe von Niedersachsen ein.
„Unsere Leute sind nicht wirklich freiwillig hier, aber sie mussten einfach hierherkommen, um Geld zu verdienen, damit sie ihre Familien unterstützen können“, erwiderten die Afrikaner, die sich ängstlichganz in der Ecke versammelt hatten. „Wenn ihr mehr für unsere Waren und Rohstoffe bezahlen würdet, die ihr in Europa verbraucht, müssten wir nicht nach Deutschland kommen, um von hier aus den daheim gebliebenen den Lebensunterhalt zu sichern. Ihr lebt so gut von unseren Rohstoffen, da könnt ihr ruhig etwas von eurem Reichtum abgeben.“
Plötzlich wurde es noch tumultiger, als eine weitere Gruppe, diesmal aus Südamerika, eintraf. Während die Spanier und Portugiesen freundliche Begrüßungsworte fanden, kamen aus der Ecke der Thüringer und einiger Hessen laute, kritische und feindliche Kommentare. „Das Boot ist voll, wen sollen wir noch alles hier aufnehmen?“, oder „Wir müssen mehr für unsere Leute tun! Geht zurück in eure Länder!“
Eine junge Frau aus dem Havelland fing an zu weinen, weil ihr die Aggressivität einiger Landsleute Angst machte. „Warum hackt ihr immer auf den Schwächsten rum, anstatt Stolz darauf zu sein, dass es uns so gut geht, und wir anderen helfen können? Glaubt ihr wirklich, ihr seid etwas Besseres, bloß weil ihr zufällig von hier stammt?“
Eine Gruppe Berliner pflichtete ihr demonstrativ bei.
„Haltet euch da raus“, schallte es zurück, „Sonst könnt ihr gleich mit den anderen mitgehen, wenn wir sie wieder rausschmeißen. Solche Nestbeschmutzer wie euch können wir hier nämlich gar nicht gebrauchen“.
Bevor die Lage weiter eskalieren konnte, gab es erneut Zuwachs für die Gemeinschaft. Eine große Gruppe aus Baden-Württemberg schob sich zwischen die streitenden Parteien, wodurch sich beide Seiten etwas beruhigten. Als sich letztlich noch einige Nordamerikaner zu der Ansammlung hinzu gesellten, eskalierten die Diskussion erneut und niemand ahnte, welches große Unglück, kurz bevorstand.
In dem Moment als sich eine weitere Gruppe, diesmal aus Schleswig-Holstein, zu den anderen gesellte geschah das, was niemand für möglich gehalten hatte. Der Boden unter ihnen gab unvermittelt ganz langsam nach und alle stürzten unter heftigem Getöse und Geschrei in die Tiefe.
Dann trat Stille ein. Eine Tür sprang und das Licht wurde eingeschaltet. Der Koch betrat den Raum und war entsetzt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Azubi Sascha gesellte sich zu ihm und starrte mit großen Augen und offenem Mund auf die Szenerie. In der Hand hielt er zwei Karaffen mit Wasser aus der Schweiz und Österreich. Das Regalbrett mit den Wasserkaraffen, das er den ganzen Tag sorgfältig bestückt hatte, hatte sich unter der Last des Gewichts der gefüllten Karaffen nach vorne geneigt, woraufhin die Flaschen inBewegung gerieten und der Reihe nach von dem Brett gerutscht und in die Tiefe gestürzt sind.
Sie landeten allesamt in einer großen Kunststoffwanne, die unter dem Regalbrett auf dem Boden des Kühlraumes des Hotels stand. Einige Karaffen gingen dabei zu Bruch, die meisten überlebten den Absturz, aber die Inhalte ergossen sich größtenteils in die Wanne.
„Was hast du getan, du Nichtsnutz!“, schrie der Koch seinen Azubi an. „wie sollen wir das nur dem Chef erklären, der dreht mich dafür glatt durch den Wolf!“
„Das habe ich nicht mit Absicht gemacht. Was soll ich jetzt nur tun?“, schluchzte Sascha kleinlaut und mit einem jammervollen Gesichtsausdruck.
Der Koch neigte den Kopf und überlegte, was getan werden könnte. Die Gäste für das große Themen-Event „Wasser der Welt!“ würden in einer Stunde eintreffen, zu diesem Zweck sollten die Karaffen, die sorgfältig mit den Angaben des Ursprungs ihres Inhaltes beschriftet waren, wohl temperiert auf dem Buffet präsentiert werden.
„Gieß das Wasser aus der Wanne durch einen Filter, fülle alles Wasser wieder in die Karaffen ab, die zerbrochenen ergänzt du entsprechend. Und achte auf die korrekte Beschriftung! Dann stell alles aufs Buffet.
Wasser ist Wasser, ich wette, den Unterschied merkt doch sowieso keine Sau.“
Sascha spürte noch den leichten Schlag seines Chefs an seinem Hinterkopf, den er ihm versetzte, als dieser den Kühlraum Richtung Küche verließ.
„Wasser der Welt, was für eine Blöde Idee für diese Themenwoche!“, hörte er ihn noch granteln, dann machte Sascha sich an die Arbeit.
Das babylonische Gebrummel, dass aus der Wanne erschallte, war dabei für seine Ohren nicht zu hören. ©