Peristrophe Acanthaceae – Angela Maus
Seitdem seine Mutter gestorben war, hatte er ein wenig Gewicht zugelegt und fühlte sich oft müde und einsam. Er traute sich nicht, die vergilbten Tapeten, die damals die Mutter ausgesucht hatte, überzutapezieren. Genauso wenig konnte er sich durchringen, den massiven Eichentisch aus dem Wohnzimmer zu entfernen, obwohl der viel zu groß für den Raum war –, oder sonst etwas an der Einrichtung zu verändern. Alles sollte so bleiben, wie sie es gewollt hatte.
Er kaufte die Blume an einem ganz normalen Mittwoch.
Eigentlich war es gar keine Blume, sondern eine Grünpflanze, die er sich vor sein Wohnzimmerfenster stellen wollte. Dieser Tag war einer von den besseren: Er hatte das Gefühl, er wolle etwas Neues, Frisches in sein Leben bringen. Das passierte ihm sonst nie. Er hatte kurz überlegt, dann war er in den Blumenladen gegenüber gegangen und hatte die Topfpflanze erstanden. „Es ist eine Peristrophe“, hatte die Verkäuferin gesagt, „die können sie ruhig an ein Südfenster stellen, das macht ihr nichts aus.“ Er bezahlte, drückte die in buntes Papier gewickelte Pflanze an sich und trug sie nach Hause. Dort wickelte er sie aus und stellte sie auf die mit braunem Schrankpapier belegte Fensterbank. Ob sie der Mutter wohl gefallen hätte? Er fühlte sich wirklich belebt, als er sie dann gegossen hatte und ihr frisches Blattgrün betrachtete. Sicher wäre Mutter einverstanden gewesen!
Am nächsten Morgen ging es ihm, wie so oft, gar nicht gut. Er fühlte sich kaum in der Lage die Fenstervorhänge beiseitezuschieben, um das Morgenlicht hereinzulassen. Träge und müde war er und fragte sich, wie er diesen langen Tag wohl wieder herumbekommen würde. Da fiel sein Blick auf seine neue Grünpflanze. Müde und schlaff hingen die Blätter über den Rand des Topfes. Ein paar braune Flecken waren auch auf ihnen zu erkennen. Er kontrollierte, ob die Erde noch feucht war und wußte sich keinen Rat. – Vielleicht war die Morgensonne doch schon zu kräftig für so ein zartes Gewächs? – Er setzte sich an den großen, dunklen Eichentisch
1 und betrachtete die Pflanze eine Weile mit ratlosem Blick. Es kam ihm nach längerer Überlegung so vor, als vertrage diese vorher so frisch anmutende Pflanze die verstaubte Atmosphäre dieses Raumes nicht. Allzu düster wirkte der Raum, mit seinen groben, dunklen Möbeln. Das Fenster müßte auch einmal geputzt werden!
Energisch stand er auf, holte Eimer und Lappen, stellte die Pflanze vorsichtig auf den Tisch und begann das Fenster zu putzen. Als er das Fenster öffnete, ging die Nachbarin vorbei, blickte, vom Geräusch des sich in den Angeln drehenden Fensters aufmerksam geworden, nach oben und grüßte freundlich.
„Ja, das ist auch das richtige Wetter zum Fenster-Putzen ……. Sie sind ja so
fleißig heute………..Wie schön, dass ich sie mal wieder
sehe……………………Sonst hört man ja kaum etwas von ihnen.“
Ein Lächeln blühte in seinem Gesicht. Er wunderte sich über die Freundlichkeit der Frau. Er hörte auch sich freundliche Dinge sagen: „Ja,
das ist mal nötig…………………ja, ich sollte wohl mehr an die Luft
gehen……….Vielleicht sieht man sich bald mal wieder.“
Die Frau ging einkaufen.
Er schloß nach getaner Arbeit das Fenster, blickte noch einmal kritisch durch die frisch geputzte Scheibe, entfernte das schäbige Schrankpapier und wendete sich, vom nachbarschaftlichen Gespräch beschwingt, der Blume zu.
Frisches Grün leuchtete ihm entgegen. Die schlaffen Blätter schienen sich erholt zu haben. Kräftig reckte sich ein Stengel dem Licht entgegen. Behutsam stellte er sie auf das nun saubere Fensterbrett. Wie vom Morgenlicht angestrahlt leuchteten die Blätter in fröhlichem grün. Immer wieder musste er sie anblicken.
Gegen Abend hatte er keine Lust mehr fernzusehen. Er fühlte sich gelangweilt und einsam. Wieder kroch der zähe Nebel der Depression in seine Knochen. Der Tag war so lang. Er versuchte sich an seine freundliche Stimmung am Morgen zu erinnern, es gelang ihm nicht. Am besten würde er früh ins Bett gehen. Er zog die Gardine vor das Fenster. Darauf hatte seine Mutter immer bestanden. – „Es könnte ja jemand in die Wohnung gucken, von draußen, da fühlt man sich so beobachtet ….“ Da sah er, dass seine Pflanze ein Blatt verloren hatte und der frische Stengel vom Morgen wurde an der Spitze gelblich und neigte sich zu Boden. Die Blätter waren schlaff und das einst so frische Grün sah jetzt fad-gelblich aus.
Er hatte sie doch gepflegt und gegossen, hatte für sie das Fenster geputzt und das alte Schrankpapier weggeworfen. Am Nachmittag hatte er sogar die Blätter mit Wasser besprüht. Sie hatte keinen Grund, sich hängen zu lassen.
Aber, naja, auch er fand es ja ohne Abwechslung im Haus öde und langweilig. So zog er sich seine Strickjacke an, die ihm die Mutter vor Jahren geschenkt hatte, nahm den Blumentopf in seine weiche, große Hand und ging die Treppe hinunter. Wahllos überquerte er Straßen und setzte sich schließlich auf eine weiß gestrichene Bank im Park, stellte die Blume neben sich und sah der Sonne dabei zu, wie sie hinter den großen Bäumen unterging. Ab und zu lief ein Jogger vorbei und eine alte Frau führte ihren Hund spazieren. Der Wind wehte lau und die friedliche Abendstimmung erfüllte ihn. – Er sprach ein paar freundliche Worte zu seiner Peristrophe und kam sich sofort reichlich komisch vor, als er sich dabei ertappte.
In zartem, ruhigen grün stand sie da neben ihm. Leicht bewegte der Sommerwind ihre friedlichen Blätter.
So lebte er mit ihr. Wenn es ihm gut ging, blühte sie auf. Wenn sie nicht genug Wasser hatte, fühlte er sich schlapp und leer. Allmählich wurde die Vermutung zur Gewissheit, dass ihrer beider Schicksal zusammenhing. Er kümmerte sich stets darum, dass es ihm gut ging, machte Spaziergänge, redete regelmäßig mit der Nachbarin, ernährte sich ausgewogen und schaffte sich ein Hobby an. Er baute Modellschiffchen, die er bei schönem Wetter im Parksee schwimmen ließ. Dabei führte er manches nette Gespräch mit Gleichgesinnten. Wenn er es nicht schaffte, es sich auf diese Weise gut gehen zu lassen und seine Pflanze die Blätter hängen ließ, versuchte er die Wohnung für sie schön zu machen, kaufte Dünger und sorgte für Licht und frische Luft. Sogar einen neuen, kleineren Tisch hatte er sich geleistet und ein buntes Bild, moderne Kunst, hatte er an die Wand gehängt.
Wenn sie frisches Wasser bekommen hatte, ein wenig Dünger und die Erde aufgelockert wurde, fühlte auch er sich erleichtert und gestärkt. Hatte sie müde Blätter oder die Sonne reichte für sie nicht aus, fühlte auch er sich krank.
Irgendwann schafften sie es nicht mehr. Der Winter kam, das Fenster mußte geschlossen bleiben und das Licht reichte nicht aus. Sie ließ die Blätter hängen und auch ihm ging es zunehmend schlechter. Er lud die Nachbarin zum Kaffee ein, baute in einer besonderen Anstrengung, trotz zunehmender Trägheit, einen schönen Dampfer, mit echtem Rauch aus dem Schornstein und kaufte sich frischen Salat, wegen der Vitamine. Er goß seine Pflanze, filterte Wasser, um sie zu besprühen, gab ihr neue Erde. Aber alles das nütze nichts.
Er kaufte sich Bücher über Zimmerpflanzen, wurde zum Spezialisten für die Pflanzenfamilie „Acanthaceae“ überhaupt. Dort sah er auf eindrucksvollen Fotos „Peristrophes“ in ungeheurer Größe, mit Blüten in prächtigen Farben. Er las, dass sie bei tropischem Klima in Äquatornähe so üppig gedeihen.
Schon sechs Blätter hatte sie verloren. Die restlichen Blätter lagen schlaff und blass auf dem Rand des irdenen Topfes. Kaum noch Leben schien in ihr zu sein und es war eine Frage von Tagen, wann sie restlos gestorben wäre. Er schaffte kaum noch den Weg zum Kaufmann. Seine Depressionen übermannten ihn. Er ließ die Gardinen seines Fensters zu, denn so mußte er das Elend seiner verkümmernden Pflanze nicht mehr ertragen und so konnte das scheußliche Tageslicht ihn in seiner Lethargie nicht stören. Er blieb im Bett und fühlte sich furchtbar.
Es war wohl der Mut der Verzweiflung, oder einfach wie das Aufflackern einer sterbenden Kerze, dass er es trotzdem schaffte, blaß und mit glasigem Blick, mit schlurfendem Schritt, ungewaschen und ungekämmt, das Haus zu verlassen. Zuerst ging er zur Bank, dann ins Reisebüro und anschließend ins Kaufhaus. Er erstand kurze Hosen, ein paar HawaiiHemden und einen kleinen handlichen Koffer.
Dann ging er sie holen, wickelte den Blumentopf mit den jämmerlichen Überresten in altes Zeitungspapier, warf etwas Unterwäsche, seine Zahnbürste und ein paar andere Kleinigkeiten in den Koffer, zog seinen Mantel über und schloss die Tür der mütterlichen Wohnung von außen ab. Die S-Bahn brachte die Beiden zum Flughafen. ©