Blaue Seide – Angela Maus

Ticktack, ticktack…

Die Wanduhr hackt die Zeit in kleine Stücke.

Heute hat er die Gardinen geschlossen gelassen.

Durch die Wand hört er die Hitparade der Volksmusik. Die Nachbarin braucht dringend ein Hörgerät! Der Kaffee neben ihm auf dem Tisch ist seit Stunden kalt. Er fühlt sich wie verschmolzen mit diesem alten Sessel, der sich der Form seines Hinterns über die Jahrzehnte perfekt angepasst hat.

Er spürt vertraut, aber unangenehm den kratzigen Stoff der rauen Armlehne unter seinen feuchten Fingern. Er vermutet, dass es draußen langsam dunkel wird. Eigentlich müsste er Licht machen.

Ticktack, ticktack…

Sie hätte jetzt in der Küche den Abendbrottisch gedeckt und Tee gekocht. Dann hätte sie gerufen „Bärchen, kommst du, Abendbrot!“ Nie wieder würde es so sein. Er würde sie nie mehr in der blau-geblümten Kittelschürze sehen, die nun über der Stuhllehne hängt. Nie wieder würde sie „Bärchen“ sagen.

Ticktack, ticktack…

Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen?

Ja. Essen war ihr immer wichtig. Nie durfte er aufstehen, ohne seinen Teller geleert zu haben. – Auch wenn ihm übel war – oder es Bratwurst gab, die er verabscheute -.

Ob wohl noch etwas Essbares im Kühlschrank ist?

Ticktack…

Nein, aus diesem Kühlschrank würde er nie wieder essen, diesem Kühlschrank in dem Sie ihre ekeligen Würste, ihre abgestandenen abgepackten Salate, den widerlichen Schimmelkäse und all die anderen Scheußlichkeiten aufbewahrten.

Ticktack, ticktack…

Im Fernsehen läuft bereits das Abendprogramm, wie er unschwer hören kann. Nein, die Hitparade der Volksmusik würde er sicher nicht gucken. Wie sehr hatte ihn das immer gelangweilt. Ein schöner Porno, ein blutiger Thriller oder wenigstens ein guter Tatort, das wäre eher was. Niemals hätte Mutter ihm das erlaubt.

Ticktick….

Schon immer hatte sie ihm morgens die Kleider rausgelegt. In der Schule war er oft für seine Kleidung gehänselt worden. Immer eine gebügelte braune Hose, ein beigefarbenes oderweißes Hemd. Im Winter darüber einen Pullover mit V-Ausschnitt, bei besonderen Anlässen mit Krawatte. Feinrippunterwäsche…

Wie er das alles hasste. Noch nie mochte er braun. Die Hemden aus Kunstfaser fühlten sich auf seiner Haut an wie Blechhemden.

Ticktack, ticktack, ticktack, ticktack.

Dong, dong, dong … er fährt zusammen! ….. 9x schlägt die Uhr. Es wird spät. Er hat lang genug gewartet.

Entschlossen, aber langsam steht er auf. Dann geht er, Schritt für Schritt durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Hier ist es kühl. Den Fernseher und die Uhr kann er hier nicht hören. Die Zeit beginnt wieder zu fließen. Er drückt den Lichtschalter. Die Deckenbeleuchtung wirft scharfe Schatten in die Ecken. Er sieht sich im Schranktürspiegel.

Langsam öffnet er seinen Gürtel und entledigt sich seiner Hose, lässt sie einfach auf den Teppich gleiten. Er tritt achtlos auf ihr herum. Die Bügelfalte ist sicher nicht mehr zu retten. Langsam knöpft er sein Hemd auf und lässt es über die Schultern zu Boden rutschen, dann entledigt er sich auch noch seiner Unterwäsche, die ebenfalls auf dem Klamottenhaufen unter ihm landet. Als letztes reißt er die braunen Socken von seinen Füßen und schleudert sie beiläufig durchs Zimmer.

Dann zieht er langsam die Schublade der alten Kommode auf. Ernst prüft er den Inhalt und nimmt sich schließlich einen feinen Slip aus schwarzer Seide heraus. Er setzt sich aufs Bett und streift das zarte Kleidungsstück vorsichtig über die Füße, steht auf und lässt ihn langsam die Beine hinauf gleiten. Er passt erstaunlich gut.

In der Schublade darunter findet er eine Feinstrumpfhose. So, wie er es hundertmal bei seiner Mutter gesehen hat, fasst er das empfindliche Gewebe mit den Fingerkuppen, schiebt erst die gesamte Beinlänge eines Stumpfes in den Händen zusammen, um dann den Fuß hineinzuschieben und sie langsam über das Beine nach oben zu ziehen. Dann erst, auch ganz vorsichtig, ist das andere Bein an der Reihe. Eine kleine wohlige Gänsehaut bildet sich dabei auf seinen Armen.

Neben den Höschen, in der oberen Schublade findet er ihren schwarzen BH. Er schließt ihn zunächst vorne, vor seiner nackten Männerbrust, dreht dann zügig den Verschluss nach hinten und streift erst dann die Träger über die Schultern. Erregung und Scham ergreifen ihn gleichzeitig. Liegt es am zu engen Gummi des Büstenhalters, dass er so schwer atmen muss? Er wartet ein wenig, bis er sich wieder im Griff hat. Dann öffnet er den Kleiderschrank. Ganz links, eingehüllt in eine Plastikfolie, hängt das dunkelblau changierende Kleid. Sie hatte es das letzte Mal bei Tante Ilses goldener Hochzeit an. Das muss wohl 15 Jahre her sein. Er nimmt es aus dem Schrank, entfernt die Folie und lässt das Kleid mit dieser berauschenden Menge an Stoff über den Kopf gleiten. Kühl rutscht der glatte Stoff an seinem Körper hinunter, umschmeichelt seine zart bestrumpften Beine. Der Reißverschluss ist unter dem Arm. Das kann er gut alleine.

Auf dem Nachschrank liegen Tempotaschentücher. Er öffnet die Packung, zieht eins nach dem anderen heraus und formt kleine Kugeln daraus, die er geschickt und gleichmäßig vom Ausschnitt aus in den Spitzenkörbchen des BHs platziert.

Er dreht sich zufrieden vor dem Spiegel an der Schranktür und streicht mit den Händen über den schwingenden Rock.

Dann geht er ins Badezimmer. An seinen kurzen Haaren kann er jetzt nichts ändern. Aber Lippenstift hat sie, Wimperntusche, Lidschatten. Akribisch und sorgfältig malt er sein Gesicht, wie ein Künstler ein Portrait auf Leinwand. Er braucht lange, bis er ganz zufrieden ist.

Jetzt nur noch die hohen Schuhe.

Dafür muss er in den Flur. Sie liegt im Weg. Musste sie denn unbedingt auf das Schuhregal fallen? Hoffentlich hat sie High Heels nicht vollgeblutet.

Er greift ihr in die schwarz gefärbten Locken und zieht kräftig an ihrem verrenkten Kopf, bis der Körper zur Seite kippt und das kleine Schuhregal freigibt. Zum Glück sind die eleganten Schuhe unversehrt. Er steigt hinein, wirft den Haustürschlüssel in ihre Handtasche, ihr Portemonnaie ist noch drin, hängt sich das Täschchen um, schnappt sich noch im Vorübergehen ihren blauen Mantel und verlässt die Wohnung.

Er wird Steak essen und einen Cocktail trinken. Wie heißt noch die Bar, über die sie immer so geschimpft hat? ©

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